Referent Patrick Herzog zu den Verschränkungen von digitalen und realen Räumen – im virealen Raum
Von Thomas König, Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart

Vireale Räume? Was mag das bedeuten? Wie Referent Patrick Herzog vom Verein zur Förderung von Jugendlichen in Stuttgart ausführte, charakterisiert dieser Begriff die Verschränkungen von digitalen und realen Räumen. Er zeigte am Vergleichaktueller Nachrichtenbilder, die Raketenangriffe zeigen, und der Grafik eines 30 Jahre alten Computerspiels von Atari, wie sehr sich die Anmutung gleicht.
Diese Gleichzeitigkeit von tatsächlicher und digitaler Existenz nicht nur in Bildern sei für die Realität junger Leute heute zentral: virtuell und real – zwei Zustände, aktuell kaum mehr zu trennen: eben vireal. 49 Teilnehmende hatten sich zur Veranstaltung online zugeschaltet, die in Kooperation von männer.bw, dem Forum Männer und Väter in Baden-Württemberg, der Sozialberatung Stuttgart | Fachbereich Gewaltprävention, Gewaltschutz für Männer und der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart | Fachbereich Gesellschafts- und Sozialpolitik angeboten wurde.
Gaming und Genderreflexion
Patrick Herzog ist Spiel-, Sozial- und Medienpädagoge sowie Jungenarbeiter. Sein Projekt Vi:real beschäftigt sich mit Gaming und Genderreflexion. Im Rahmen des Projekts Vi:Real, das sich an Jugendliche und junge Erwachsene ebenso wie an Fachkräfte und Ehrenamtliche in der Jugendhilfe richtet, wird aufsuchende Sozialarbeit (Digital Streetwork) auf Gamingplattformen, wie beispielsweise Discord und Twitch, betrieben. Es bietet Unterstützung und Beratung im Kontext von Sexualitäten, Gender und Geschlechtlichkeit und im Bedarfsfall die Weitervermittlung an die Onlineberatung des Vereins zur Förderung von Jugendlichen, sowie an spezifische andere Fach(beratungs)stellen. Zu den Aufgaben gehört auch die Schulung von Fachkräften und Ehrenamtlichen.

Eine reine Schulung war die online-Abendveranstaltung nicht, gleichwohl war Herzogs Vortrag prall mit Informationen und Wissenswertem zum Thema gefüllt: Gewalterfahrungen junger Menschen in digitalen Räumen und deren Einfluss auf Männlichkeiten und Queerness im Kontext ihrer Mediennutzungsgewohnheiten.
Patrick Herzog fragte zunächst, wo Identitätsbildung Jugendlicher heute stattfindet, konkret wo Räume sind, um Freunde zu finden und an welchen Orten Einfluss auf die Entwicklung genommen wird. Digitale Plattformen unterschiedlicher Art spielten dabei laut JIM (Jugend, Information, Medien) und KIM (Kindheit, Internet, Medien) Studien eine wichtige Rolle: WhatsApp, Instagram, Snapchat, TikTok, YouTube u.a. Diese seien Räume, die eine große Relevanz für die Entwicklung von Jugendlichen hätten, sie fungierten als „Wissenszugriffplattformen“, hier sind memes zu finden, die zur Identitätsbildung beitrügen. Es fänden sich die Informationen zu aktuellen Themen wie Krieg, Fußball/Sport, Klimawandel u.a., hier sind allerdings auch Orte, wo sexuelle Belästigung stattfände, am häufigsten auf Instagram, das allerdings auch am meisten von Jugendlichen genutzt werde.
Digitale Spiele und ihre Bedeutung
Auch Gamingplattformen spielten hinsichtlich Genderaspekten eine wichtige Rolle: Minecraft, Fortnite, Brawl Stars, FIFA, u.a. Denn digitale Spiele böten zeitlich begrenzte Erfahrungsräume mit eigenen Regeln und Sinnzusammenhängen. Etwa 75 % der Jugendlichen spielen regelmäßig digitale Spiele. Die JIM-Studie 2024 zeigt, dass männliche Jugendliche für digitales Spielen im Schnitt 114 Minuten täglich aufwenden, weibliche Jugendliche hingegen nur 66 Minuten. Dabei werde immer auch eine Genderrolle gespielt, und frei nach Judith Butler formulierte Patrick Herzog, man spiele immer auch mit oder für einen anderen, wenn auch nur vorgestellt. Gamingplattformen und die Wahl eines Avatars erlaubten es dann auch virtuell, eine Genderrolle zu spielen, die in der Realität vielleicht nicht die eigene ist.
Gleichwohl bliebe das Spannungsfeld von Gender-Binarität: dazwischen fände das Leben statt und Gendervorgaben erwiesen sich als fragile Konstruktionen: Dichotomien dominierten weiterhin in gesellschaftlichen Diskussionen und Prozessen, wie das Beispiel um die Notwendigkeit einer Wehrpflicht in Deutschland zeige. Männlichkeiten als Aspekt von Genderperformance blieben weiterhin dominant, denn männlich markierte Praktiken könnten von Medien prima benutzt werden: um zu kommunizieren, sich auszudrücken, Geld zu generieren, … Männlichkeit wird als soziale Konstruktion betrachtet, die in verschiedenen Lebensbereichen ausgedrückt werden muss.
Wer hat welche Deutungshoheiten?
Letztendlich ginge es um die Frage, wer welche Deutungshoheiten habe. Die sozialen Medien seien zeitlich entgrenzt und 24 Stunden in sieben Tagen die Woche verfügbar. Damit wären auch Konfrontationsmöglichkeiten und Genderperformance immer verfügbar und Jugendliche könnten immer wieder mit binären Vorstellungen konfrontiert werden. Hegemoniale Männlichkeit wird durch die Abwertung nicht-heteronormativer Männlichkeiten konstruiert, wie der Referent durch zwei Beispiele auf Instagram zeigte.
Solche Videos ermöglichten männlichen Jugendlichen eine einfache Identifikation, auch wenn einfache Kausalschlüsse problematisch seien: Ein Filmchen hat nicht automatisch üble Folgen. Gleichwohl könnten die Algorithmen digitaler Plattformen einen verstärkenden Effekt hinsichtlich Verhaltensänderungen haben.
Aus dem Chat der Teilnehmenden heraus, gab es an dieser Stelle als Tipp für Sozialarbeiter:innen: Man könne sich mal auf dem Arbeitshandy einen Account für eine digitale Plattform erstellen und dort einstellen man sei 14 Jahre alt und anschließend mit den Augen von Jugendlichen durch das Angebot scrollen. Patrick Herzog rät, einmal die eigenen Privilegien zu checken und unter heteronormativen Kriterien die „diffuse Normalität“ zu überprüfen: Queere Menschen und sexuelle Minderheiten würden die Abwertungserfahrungen und Diskriminierung bewusst wahrnehmen.
Männlichkeiten und Queerness
Beim Thema Männlichkeit(sperformance) zeige sich, dass Ego-Shooter-Spiele den Krieg immer wieder kulturell rezipierten und da könnten sich Realität und Virtualität in der Wahrnehmung überschneiden. Gleichwohl, das Spiel erlaube auch ein Scheitern, daher könnten Spiele auch für Jungen und Männer interessant sein, anders als etwa Alltagsbezüge in der Schule, die nicht so leicht veränderlich sind. Spiele könnten der Psychohygiene dienen, um aktuelle Belastungen zu verarbeiten und Entlastung zu bieten. Weil im Spiel Wiederholbarkeit gegeben ist, kann jederzeit von vorne begonnen werden, wer im Spiel gestorben ist, kann wiederkommen. So sei das Spiel belanglos, es ist aus der Wirklichkeit herausgekommen, es ist Kultur.
Im Hinblick auf queere Jugendliche führte Patrick Herzog aus, dass die binäre, heteronormative Hegemonie das Hauptproblem für queere Menschen sei, nicht ihre sexuelle Identität. Da sei es gut, dass es durchaus digitale Spieleräume gäbe, die jenseits von Alltagserfahrungen genutzt werden könnten. Simulationsspiele hätten mit den Alltagsdiskriminierungen nichts zu tun. Queere Menschen spielten tatsächlich häufiger Simulationsspiele als andere Menschen, was auf eine stärkere Identifikation mit diesen Spielen hinweist und in der Logik des Spiels ist keine Rechtfertigung notwendig: Es gibt die Freiheit sich etwa einen beliebigen genderunabhängigen Avatar zu wählen.
Queeres Empowerment
Digitale Räume können risikohaft sein, aber auch Chancen bieten: So könnten in safer spaces (Bsp. auf Twitsch) Kontakte zu Gleichgesinnten geknüpft werden, so könnte Communitybuilding stattfinden, Kontakte zu peers und Datingmöglichkeiten seien vorstellbar. Digitale Räume könnten inklusiver sein als die Realität, denn in einem digitalen Spiel ließe sich die jeweilige Figur frei bewegen. Ein Coming-out könnte erleichtert werden, es ließen sich Informationen finden bspw. zum Thema Transsexualität, dies ginge in digitalen Räumen oft leichter als im wahren Leben.
Diskriminierung, Abwertungen und Gewalterfahrungen von Queeren und queer gelesenen Menschen umfassen Rassismus, Queerfeindlichkeit, Transfeindlichkeit und andere Formen der Abwertung. Diese Intersektionalität, also die gleichzeitige Diskriminierung aufgrund mehrerer Identitätsmerkmale (z.B. Rassismus und Klassismus), kann in digitalen Medien z.B. auf Instagram sowie im Alltag sichtbar gemacht werden, denn von der digitalen Welt erleben LGBTQ+-Personen häufig Stress und negative gesundheitliche Folgen, die bis in die reale Welt hinein wirken.
Zudem ist die Vulnerabilität queerer Jugendlicher oft aufgrund äußerlicher Umstände und gesellschaftlicher Rahmenbedingungen gegeben: einem höheren Risiko für Suizidversuche, (Jugend-)Wohnungslosigkeit, Schulabstinenz durch Mobbing, eine beeinträchtigte psychische Gesundheit, ein riskantes Konsumverhalten oder sexuelle Gewalterfahrungen. Orte der Diskriminierung seien in der Öffentlichkeit, in der Familie, in der Freizeit, bei der Arbeit, im Freundeskreis oder in der Schule zu lokalisieren.
Gewalterfahrungen in digitalen Räumen
Queere Jugendliche geben an, dass sie dreimal so häufig Gewalterfahrungen im digitalen Kontext gemacht hätten als andere Jugendliche, v.a. durch Mobbing (42 % vs. 15 %). 26 % der LGBTQ+-Jugendlichen gaben an, aufgrund ihrer sexuellen Orientierung online gemobbt worden zu sein und 32 % der LGBTQ+-Befragten erlebten online sexuelle Belästigung, viermal häufiger als Nicht-LGBTQ+-Jugendliche (32 % vs. 8 %). Folgen digitaler sexualisierter Gewalt können Ohnmachtserfahrungen, Scham, Ekel und Isolation sein, Retraumatisierungen aufgrund real gemachter Erfahrungen sind möglich.
Das Smartphone als Waffe und Rettungsring zugleich
Nach seinem dichten, ausführlichen und kenntnisreichen Vortrag, der immer wieder von Kommentaren und Nachfragen aus dem Kreis der Teilnehmenden ergänzt wurde, richtete Patrick Herzog noch einen zusammenfassenden Appell an alle, die sozial mit Jugendlichen arbeiten: Wichtig sei ein Schwerpunkt auf dem Thema Medienbildung für alle. Informationstechnische Beratung brauche Transparenz und Unterstützung und die Transparenz müsse auch bezüglich eigener Einfluss-Möglichkeiten (Machtaspekte) gegeben sein. Bereits stattgefundene Gewalterfahrungen junger Menschen seien valide und ernst zu nehmen. Generell sei es im Kontext immer wichtig, die Selbstwirksamkeit junger Menschen zu stärken und die Menschenrechte auch im Bereich digitaler Medien durchzusetzen. Gelänge es, Schutz zu geben, Beteiligung zu fördern und Befähigungen zu vermitteln, wären es wahrlich „Goldene Zeiten für die Profession der Sozialen Arbeit?!“
Weitere Informationen
Projekt Vi:Real – Gaming & Genderreflexion
Taskcard mit Handout und weiteren Resssourcen zum Vortrag
Quelle: Newsletter August / September 2025 der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart